VON FRANZ XAVER JOCHUM AUS WIEN
Lieber alter Freund!
Obwohl ich mir fast täglich vornahm Deinen Brief von Leipzig zu beantworten, komme ich doch erst heute dazu diesen Vorsatz zu verwirklichen; warum? um weder mich noch Dich zu täuschen, aus Faulheit. Zuerst verschob ich es bis zu Uhrenmacher Felders Ankunft zum Schützenfest, dann bis Ende des Schützenfestes u. dann von Tag zu Tag bis jetzt. Die Festhalle besuchte ich, als der Studentenkommers zu Ehren der Schützen abgehalten wurde; die Halle gefiehl mir mehr als ich den Bildern nach vermuthen konnte, sie war wirklich großartig, so zwar das ein Commers ein Unsinn war. Zwei Tische vom Katheder entfernt verstand ich von den Reden keinen Satz, kaum den Chorgesang hörte man deutlich, was werden die am 20 oder 30sten Tische gehört haben? Getroffen habe ich nur einen bekannten Vorarlberger einen „Winter" aus Feldkirch. Kritiken u. Berichte über das Schützenfest hast Du sicher genug gehört u. gelesen.
Die Nachricht von Deinem u. der Deinen Wohlergehen u. Deinen litterarischen u. politisch-socialen Erfolgen zu Hause hat mich sehr gefreut: hoffentlich wird Dein neuestes Produkt zur Vermehrung Deines Ruhmes beitragen. Die Bildung des Volkes geht jetzt auch in diesen Gegenden rasch vorwärts, die Staatshülfe (von mir immer vertheitigt) wirkt Wunder, obwohl sie eigentlich in nicht viel mehr besteht, als daß man den Fortschritt nicht hemmt. Dadurch schon scheint Österreich sich viele Sympathien erworben zu haben. Wer das Leben hier genauer ansieht, muß sich die Meinung bilden, daß unser Staat gegenwärtig wohl der freiste ist, der existirt; Bei euch werden wohl Regierungsorgane u. Volk das ihrige beitragen, daß man ein bischen anders denkt.
Auch ich war auf dem Wege, meine Gedanken mittelst Guttenberg's Erfindung hie u. da zu verbreiten. Es wurde nämlich von einem Bekannten nach vielen Mühen eine Arbeiterzeitung gegründet u. dieser engagierte mich als Mitarbeiter. In der ersten Nummer ist ein meinem Schädel entsprossener Aufsatz. Schwierigkeiten zur Gründung waren leicht begreiflich die Finanzen. Finanzen waren auch die Ursache des frühen Todes dieses Blattes. Ein Fabrikantensohn hatte das nöthige Geld geliefert für Caution u. Auslagen. Da aber nach Ausgabe des zweiten Blattes kein Erträgniß erzielt war, zog er die Caution zurück u. gab kein Geld mehr her u. deßhalb gieng die schon gesetzte Auflage des dritten Blattes als Embryo ab. Die Haltung des Blattes war dem Fabrikantensöhnchen auch nicht nach seinem Sinne, sondern zu demokratisch. In Arbeiterkreisen der gebildeten Sorte fand es hingegen schon nach der ersten Nummer sehr großen Anklang u. es hätte wahrscheinlich bald eine ziemliche Verbreitung gefunden. Tonangeber in Vereinen haben dem Redakteur versprochen, dahin zu wirken, daß eine baldige Fortsetzung ermöglicht wird. Für die eintreten, die nichts besitzen ist aber sehr schwer. Wir wollen sehen ob es ihm gelingt. Einige Tage vor der erwähnten Katastrophe habe ich dem Redakteur Deine Addresse übergeben u. für Dich ein Exemplar bestellt; wäre die 3te Nummer gesund zur Welt gekommen, so wäre sie Dir mit den 2 älteren Schwesterchen zugeschickt worden. Ich wohne noch immer in der Dir schon bekannt gegebenen Wohnung, vielleicht dauert es noch einen Monat bis ich weichen u. Quartier für meine Rechnung beziehen muß, je nach der Witterung. Lektionen habe ich bisher immer noch wenige, für Wien schlecht bezahlte und ungelegene, so daß ich finanziel nicht glänzend stehe, jedoch Noth leide ich nicht, muß aber unverhältnißmäßig viel Zeit für die bloße Existenz vertandien. Mein Leben ist so einfach, daß sich wenig darüber bemerken läßt. An Vereinen habe ich bisher nicht Theil genommen, theils weil mir keiner vollständig nach meinem Gusto war, theils der Auslagen wegen. Letzten Samstag gieng ich zum ersten Male in einen bis dahin nicht gekannten Verein als Gast, er nennt sich „veritas" und besteht großentheils aus Doktoren u. Professoren. Er hat mir sehr gut gefallen. Politische, sociale u. religiöse Fragen werden in vollsten Sinne frei besprochen u. so werde ich denn auch heute der Einladung des Vorsitzenden Folge leisten u. wieder erscheinen, ja auch seine große Bedeutung zu haben scheint. Und zur schön = literarischen Bemerkung hinzu noch eine ebensowohl vom ästhetischen als vom Utilitäts=Standpunkte aus: diese Brücke ist ein prachtvoll romantischer Punkt; aber nicht im Mindesten als solcher zugänglich gemacht. Meine 2 lieben Begleiterinnen u. ich suchten mit aller Sorgfalt hüben u. drüben u. auf der Brücke selbst einen Standort, von dem aus man das geniale Brücklein selbst u. seine Umgebung u. den tief=unten grün=blau gekleideten, schwermüthig herauflächelnden Fluß behaglich betrachten könnte; es war kein solcher Punkt zu finden. Auf der Brücke verhindern die hohen Bretterwände ein Hinabschauen u. am Ein= u. Ausgang lassen die senkrechten Felsen u. das auf ihrem Rande stehende Gebüsch= u. Baumwerk den Wanderer auch nirgends in die großartige Schlucht hinabblicken. Da sollte man mit ganz weniger Arbeit nachhelfen: solches versteht man in der Schweiz nur zu gut; bei Ihnen aber wirklich noch zu wenig. Auch da heißt's: ,,z' Lützel u. z' Viel verderben alle Spiel". Und weil wir einmal dort in der Nähe sind, noch Eines: der kleine Hieb auf die Wirthshäuser von Schwarzenberg wäre fast noch etwas derber ausgefallen u. auch dann noch verdient gewesen. Im Hirschen daselbst bedienten uns zwei Wälder=Mädchen, ich weiß nicht waren's Töchter oder Verwandte oder Angestellte des Wirths, - vielleicht weil wir anspruchslos u. staubbedeckt zu Fuß anlangten - sehr unfreundlich, „g'schnuoper" nennen wir das, kurz angebunden, im Gegensatz zu dem ganzen übrigen Ton, der uns durch den ganzen Wald so sehr angesprochen. Wir wären, wie Ihnen vielleicht unser Träger erzählt hat, auch lieber auf der Equipage, als auf Schuhmachers Rapp angefahren; aber sintemalen in Bezau kein Pferd zu kriegen war, so mußten wir uns bescheiden; haben gelächelt über die furchtbaren Crinolinen u. Chignons, die aus den großen Städten Bregenz u. Lindau u. Friedrichshafen sich in der Sommerfrische Schwarzenbergs breit machen, wobei ihre Trägerinnen sich überdieß noch gehörig zu langweilen schienen; u. den dummen Kellnerinnen gedachte ich eigentlich eine gehörige Feuilletons=Ohrfeige zu applicieren. Aber sie verstehens halt noch nicht besser u. beurtheilen die Leute nach den Kleidern u. ahnen in einem bescheidenen Wanderer nicht einen furchtbaren Feuilletonisten. Diese Brücken= u. Kellnerinnen = Betrachtungen können Sie gelegentlich anbringen, wenn Sie im Hirschen in Schwarzenberg einkehren. Da haben dann freilich die Frau Base in Alberschwende u. das dortige Bäbeli einen ganz ändern Stein sich bei uns ins Brett gelegt. Da muß ich aber doch Sie noch um Verzeihung bitten, daß ich den naiven Bericht der Frau Bilgery über das allerliebste naive Wort Ihres Fraueleins „was er nüd hübsch ist, ist er gschiit" aller Welt verrathen habe. Kehren wir von diesen Abschweifungen wieder zu Ihnen zurück: so halte ich also die Herstellung einiger kleinerer Novellen jetzt für durchaus indiciert u. freue mich sehr darauf, ihnen hoffentlich in der großen Gartenlaube zu begegnen. Es ist dieß gewiß ganz der nothwendige u. zweckmäßige Ruhepunkt, auf dem Sie ein Weilchen sich niederlassen u. auch - ein so willkommenes Stücklein Brot mit den Ihrigen genießen werden. Aber dann, denke ich, muß ja doch nach einer Weile wieder aufgestanden u. nach höher liegenden Zielen emporgeklommen werden. Wohin dann der Geist Sie treibt, darauf bin ich sehr begierig u. habe die Ahnung: Ihr Schicksal - zunächst als Schriftsteller, aber dann auch als Mensch hängt von der Richtung ab, welche Sie dann einschlagen, von den Zielpunkten, nach welchen Sie dann Ihre Schritte lenken. Der Geist leitet zwar theilweise unbewußt seinen Träger u. Ihr Genius hat Sie bisher sichtbar u. nachweisbar aufs Beste geleitet. Doch hat der Apostel auch recht, wenn er der Ansicht ist, der Prophet sei des Geistes, der in ihm wohne, mächtig. Wie ich Ihnen schon mündlich andeutete, ist z. B. Ihrem sehr kundigen Verleger ein Wenig bange über Ihre zukünftige schriftstellerische Entwicklung. Ich bin beruhigt für mich u. werde nächster Tage auch ihn beruhigen. Ja ich frage mich, ob es nicht von meinem geringen Standpunkte aus fast eine Anmaßung sei, hierüber Ihnen irgend einen Rath ertheilen, den Pegasus, der Sie trägt, auf irgend einen Weg mit= lenken zu wollen. Er wird ja wohl seinen Weg auch weiter finden u. Sie werden auch ferner sich selbst am Besten rathen. Und doch hat gerade das einläßlichste Studium Ihrer Werke u. die theilnahmvollste Beschäftigung mit Ihrer Persönlichkeit mich immer wieder zum Problem zurückgeführt: wie wird Felder, der als erst 30jähriger Mann noch eine schöne, lange Zeit des Wirkens vor sich hat, zum immer größeren Schriftsteller weiter sich entwickeln? Darüber glaube ich meinen verehrten Herrn Vetter in Leipzig ganz beruhigen zu können: Felder weiß die Wurzeln seiner Kraft in den Boden seiner Heimath eingesenkt u. wird nicht durch Losreißung aus diesem Boden seine Wurzeln sich selbst abschneiden. Wenn aber dieß gewiß ist; so erhebt sich ja nur um so mehr die gegenteilige Frage: kann dann aber auf so beschränktem, engem Boden ein Dichterleben u. =Streben sich fröhlich u. mächtig entfalten; wird's nicht grad durch diese Enge erdrückt werden u. frühe absterben? Wenn - ich weiß nicht, ob Hrr. Hildebrand selbst oder andere Leipziger=Freunde je einen Gedanken daran hatten, Sie sollten in die weite Welt hinaus sich verpflanzen; so war's gewiß das Gewicht dieser Frage, welches sie hiezu überwog; u. auch ich verkenne nicht dieß Gewicht. Aber ich bleibe dennoch dabei: im Vaterlande „da sind die Wurzeln Deiner ganzen Kraft". Und ich glaube: es giebt eine innere Vertiefung u. Ausweitung, welche die äußerlich beschränkten Grenzen durchaus aufzuheben vermag. Sie mögen mich schon ein Wenig auslachen, daß ich mir solche Sorge mache um Sie, und, vielleicht ganz unnöthiger Weise, manche Stunde über dieses Problem nachgedacht habe. Alles Nachdenken hat mich aber nur bestätigt in dem Gedanken, der mir schon bei Ihnen durch die Seele schoß: Ein tüchtiges, eingehendes Studium der Ceschichte des Bregenzer=Waldes wäre jetzt dann das Förderlichste für Felder.
Sie kennen die Natur u. kennen das Volk Ihrer Heimath durch u. durch. Aber nun: wie ist dieß Völklein geworden, was es ist?- Der, der dasselbe verstehen, geistig leiten u. es beherrschen will, muß auch diese Frage noch ganz klar sich beantworten. Die Antwort giebt die Geschichte. Kenntniß dieser Geschichte bringt dreierlei Gewinn:
1) Ihnen selbst. Das Studium der Geschichte, bei dem ja zuerst an der Hand eines guten Lehrbuches die allgemeine Geschichte namentlich auch des Mittelalters müßte berücksichtigt werden, macht den Geist objektiv, weit, frei. Ihre Selbstbildung zieht aus ihm den größten Gewinn.
2) Ihrer Schriftstellerei. Die bloße Dorfgeschichte erschöpft sich. Dem Dichter ist ein weiterer Horizont nothwendig; ihn eröffnet die Geschichte. Weil Ihrer Heimat Geschichte einige große u. reiche poetische Motive darbietet, so ist es Ihr Beruf u. Ihre Pflicht, diese auszubeuten. Dieß aber kann nur geschehen, wenn Sie in der Geschichte ganz zu Hause sind; die Perioden, in denen jene Episoden spielen, genau kennen u. so im Einzelnen, welches Sie herausgreifen, zugleich das Ganze sich darstellt.
3) Ihrer Heimath. Kennen Sie Zschokkes Geschichte des Schweizerlandes. Es ist kein tiefes historisches Werk. Aber für's Volk volksthümlich lebendig, begeisternd geschrieben, hat das Buch unserm Volk großen Dienst geleistet. Ich stelle mir vor, Ihr Freund Bergmann könnte Ihnen da rathend, helfend, alle Materialien bietend an die Hand gehen. Sie würden vielleicht einmal auch eine solche populäre Geschichte des Waldes zunächst als Familienbuch für Ihr Völklein schreiben. Historisches Material zur Bearbeitung im historischen Roman würde Ihnen dann in Fülle sich darbieten. Nebenbei gesagt u. als untergeordneter Punkt - auch das wäre ein Verdienst um Ihr Land, wenn eine tüchtige Verlagshandlung einen Landschaftszeichner anstellen, die schönsten u. wichtigsten Punkte des schönen Landes in guten Stahlstichen wiedergeben Lassen würde u. Sie einen lebensvollen historisch=topographischen Text dazu schreiben würden.
Ich meine: mit Allem dem bleiben Sie in Ihrer Heimath, verherrlichen, bauen, u. pflegen Sie diese Heimath u. zugleich damit wachsen Sie heran zum immer bedeutenderen Menschen u. Dichter. Sie haben eine reiche Begabung u. große Kraft. Sie sind vom Standpunkte des Fünfzigers aus beurtheilt noch jung u. haben noch lange Zeit der Bildung u. des Wachsthums vor sich. Verzeihen Sie mir meine Sorge; prüfen Sie meine Räthe. Dieselben sind sehr unmaßgeblich; in aller Bescheidenheit u. mit jedem Vorbehalt, beser belehrt zu werden, vorgebracht. Ich muß für heute zu Ende eilen. Meine I. Schwägerinn Caroline u. meine I. Frau so wie ich grüßen Sie innigst u. danken Ihnen noch viel Mal für alle Ihre Freundlichkeit. Ebenso die herzlichsten Grüße an Ihre liebe Gattinn u. verehrte Mutter... Den Uhrmacher haben wir Tag für Tag erwartet. Warum ist er noch nicht gekommen? Wir hoffen auch jetzt noch, er werde Wort halten u. in dem Stück kein Gaskogner sein. Der I. Frau Rößliwirthinn in Au unsere besten Grüße u. wir erwarten Sie ebenfalls bei ihren Seiden=Einkäufen; wir haben uns vorläufig nach der besten Bezugsquelle für sie umgesehen. -Auch dem biedern Adlerwirth in Schoppernau unser gutes Andenken. Wir sagen noch oft in der Erinnerung an ihn zu einander: „das Worl!" Es waren herrliche Tage, die wir in Ihrer Heimat verlebten. Wir werden sie nie vergessen. Und Sie waren uns die Sonne dieser Tage! - Wann kommen Sie zu uns? je eher je lieber! Bedenken Sie: in 1 1/2 Tagen sind Sie bei uns. Das ist ja nicht weit. Darum, wenn Sie irgendeinmal ausruhen, aufathmen u. Menschen sehen wollen, welche Sie lieben u. verehren, so kommen Sie zu uns. Es empfiehlt sich Ihrem freundlichen Andenken u. Wohlwollen angelegentlichst
Ihr aufrichtig ergebener Heinr. Hirzel, Diakon am St. Peter