KASPAR MOOSBRUGGER AN FRANZ MICHAEL FELDER
Lieber Freund!
Ich habe wieder ein Kind erhalten, und zwar ein Sonntagskind und wieder an einem Dreiertag, nämlich am 9. d. Ms., und heißt „Aloisia", wonach leicht herauszubringen ist, daß es ein Mädchen. Es ist gesund und wohl und die Mutter desgleichen. - Die Schriften Lassalles wirst Du nun gelesen haben. Wenn Du Propaganda damit machen kannst, ist es recht, dann behalte sie, wenn nicht, so schicke sie mir wieder. Hier sind Leute, die sie lesen möchten. Ich retourniere Dir dann Dein Manuskript, das ich nach gemachtem Gebrauch dem Meusburger gegeben habe, der sagt, er wolle es auch lesen und Bemerkungen machen. Meine Bemerkungen sind folgende:
Das Ziel und der Endzweck des Ganzen ist aus dem Vorliegenden nicht zu entnehmen, da das letzte Wort noch nicht gesprochen ist. Es kann daher auch kein vollständiges Urteil abgegeben werden. Das, was vorliegt, ist eine sehr schöne Arbeit, bei der mit viel Geschick Mühe und Fleiß, welche in Anwendung kommen, in den Falten des künstlerischen Gewandes verborgen gehalten werden. Der Hauptwert des Vorliegenden ist der ästhetische. Ob es noch an einem höhern Wert, dem der vollen inneren Wahrheit, partizipiert, kann vorläufig nicht bestimmt erkannt werden. Jedenfalls aber wohnt ihm zum mindesten sehr viel relative Wahrheit inne und es hat daher auch einen bedeutenden didaktischen Wert. Die Form ist im allgemeinen sehr gelungen und künstlerisch. Der Stoff trefflich geordnet und die Erzählung frisch und naiv. Letzteres involviert ein spezielles künstlerisches Verdienst, da es eine harte Aufgabe ist, eine solche Masse schweren Gedankenmaterials zu verarbeiten, ohne daß der Gedanke irgendwo in der fast sprichwörtlich ihm zugeschriebenen Blässe erscheint. Wenn es diesem aber öfter an Plastik gebricht, so ist dieser Fehler unvermeidlich, da der innerste Gedanke sorgfältig verborgen werden zu wollen scheint. Man müßte sagen, der Stoff werde zu breit getreten, wenn es sich um die Zeichnung tatkräftiger Menschen handeln würde. Da aber nur Leute dargestellt werden, die nach selbstgemachten Gedanken und nach ihren eigenen Gefühlen leben, so hätte noch mehr ins Breite gemalt werden können. Denn da sind die Gedanken und Gefühle (das was das Leben bestimmt) die Hauptsache, und diese werden eben nicht stets so weit und durchsichtig vorgeführt, daß man alle Haken und Ecken und auf den Grund sieht (teilweiser Mangel an Plastik). - Es liegt im Stoffe, daß wenig Handlung ist. Die Erfindung kann daher ganz einfach sein. Sie ist aber in der Tat für eine Geschichte zu einfach. Wir haben sozusagen noch nichts, als zehn Szenen aus dem Wälderleben, d. h. soviel Szenen als Kapitel, eine Kirchplatzszene, eine Wirtshausszene etc. Diese Szenen sind für sich und zusammen ganz trefflich, aber wie kann man das eine Geschichte heißen. Wenn man gar weiß, daß Du schon ein Schwarzokaspale geschrieben hast, so muß man die Erfindung ärmlich, sogar schon monoton finden. Der Hauptheld muß auch wieder als Bettler in der Fremde gewesen sein, dort mit Hilfe eines ändern sich Geld gemacht, ja er muß sogar wieder geerbt haben, um als Held im Bregenzerwald figurieren zu können. Beiläufig bemerkt, weiß ich nicht, wie Du keinen Widerspruch zwischen diesen Antezedentien des Sepp, der eigentlich nur durch Zufall (Vetter, Erbe) zu Geld kam und seinem spätem Auftreten, wo er alles durch sich selbst ist und hat, finden kannst. Doch bei solchen Erzählungen, wo Gedanke und Gefühl als Souveräne auftreten und wie alle Souveräne den Anspruch erheben, das Leben konstruieren zu wollen, kann die Handlung nur Nebensache sein, bloß da, um jemanden zu haben, an dem sie ihre Wirkung zeigen. So schrieb man früher sogenannte Weltgeschichten, die nichts anderes waren als Geschichten der Fürsten und Könige, während das Volk nur den Reflex der Großherrlichkeit derselben bildete. -
Die Sprache ist gebildet und dem Stoffe angemessen, doch, wie die gebrauchten Bilder (z. B. der öfter vorkommende Hund), hie und da zu grobbäurisch, um ästhetisch zu sein. Auch habe ich bemerkt, daß sich Sätze nicht ganz regelrecht folgen. Du mußt die Arbeit überhaupt noch durchlesen, es kommen auch viele Schreibfehler vor und sind ganze Worte und Satzteile ausgelassen. Ich habe nichts korrigiert und auch nicht stellenweise Notizen gemacht, weil ich zu viel Zeit hiezu gebraucht hätte. Du mußt Dich daher mit meiner Ansicht über das Ganze begnügen. Interessant ist diese Arbeit in didaktischer Beziehung: Das Denken und Fühlen dieser Naturmenschen ist vorzüglich dargestellt, so lange sie Im Bregenzerwald sind. Der beobachtende Sinn dieser Menschenklasse ist feiner und zarter (Mariann), das Gefühl intensiver (Mari), die Leidenschaft heftiger (Barthle), als bei Kulturmenschen, und wo der Verstand seine Funktionen übernimmt (Sepp, Franz) produziert er ganz respektable Doktrinen. Bei Sepp und Franz tritt auch die Gewalt, die der Gedanke auf den Naturmenschen ausübt, schön hervor. Im Senn zeigt sich der Mensch, bei dem zur Natur auch Kultur kommt, und wenn in ihm typisch gezeigt werden soll, wie der eigentliche Wälder ist oder sein soll, so hätte der Künstler eine gute Wahl getroffen. Auch in anderer Richtung sind die Naturleute trefflich gezeichnet: Die Kritiker am Kirchplatz, die Schnäpsler, das Weberle etc. zeigen, wie gemein derlei Menschen überhaupt sind. Es tritt aus der ganzen Erzählung recht schön hervor, wie die kleinen Naturalisten von kleinern und die großen von größeren Leidenschaften regiert werden und wie die höchste Weisheit, die diese Leute produzieren, darauf hinaus läuft, ein Gleichgewicht in den Trieben zu Stande zu bringen. Es ist erbaulich, wie diese Leute glauben, im Krieg miteinander leben zu müssen, bloß weil der Kopf (Sepp, Franz, Klausmelker) Kopf und nicht mehr bloß ein Appendix vom Herzen (alle ändern agierenden Personen außer Pfarrer und Senn) sein will. Es ergibt sich auch auf die unschuldigste Weise, vielleicht vom Dichter selbst nicht vorgesehen, daß der Naturalist* als solcher rein nichts vermag. Alles muß ihm von außen gegeben werden. Der Fortgeschrittenste derselben vermag nicht einmal aus eigener Kraft sich soviel Geld zu erwerben, um ein Bauernanwesen kaufen zu können. Da diesen Leuten das Geld alles ist, weil eine Existenz, wie sie sie wollen und nicht anders denken können, ohne solches rein unmöglich ist, zeigt sich hierin die Ohnmacht des Gedankens überhaupt, wenn er sich anmaßt, das Leben konstruieren zu wollen. Doch ich sehe vielleicht zu viel voraus, wenn ich annehme, daß Naturalismus nicht das letzte Wort des Dichters ist. Bis dieses gesprochen ist, sei mit Vergnügen konstatiert, daß der Naturalismus vortrefflich gezeichnet ist und zur Doktrin desselben hier sehr wertvolles Material vorliegt (relative Wahrheit). - Noch viel wertvoller und reicher würde letzteres aber sein, wenn der Künstler den Naturalismus als solchen sich objektiv gestalten und bis in die letzten Konsequenzen abwickeln ließe, wo es dann so werden müßte, daß er nur ein Teil eines höhern Ganzen ist und sein kann. Dann käme der ganzen Erzählung volle innere Wahrheit zu. Das Motto, das dem Werk vorgesetzt ist, erzeugt aber leider schon den Verdacht, daß der Künstler die Sache nicht so zu erfassen gedenkt. Ich würde bedauern, wenn die Spannung und Überraschung nicht darin liegen sollte, daß diese Leute alle durch die Bank, mit Ausnahme des Sennen und vielleicht einiger Frauenspersonen, beim letzten Gericht (Erzählungsausgang) weder kalt noch warm und daher verwerflich befunden werden sollten, außer sie lenken noch ein. Wenn die Erzählung nur den bisher dargestellten Naturalismus predigen sollte (es besteht kein innerer Unterschied zwischen den Kopf- und Herzleuten, wie Du schon oben bemerkt haben wirst), wird folgendes gelehrt: Reichtum, Armut, Besitz, Ansehen, Glück etc. ist nur ein Zufall und der Mensch hievon abhängig. Der Mensch soll sich ducken und mucken, d. h. sich als Kind des Zufalls betrachten, je mehr er ringt und strebt, desto offenbarer wird seine natürliche Leerheit, desto starrer, desto naturfester wird er. Der gewöhnliche Mensch ist daher wie Dorngebüsch, der große Mensch wie ein Eichenstamm (Motto). Daß es hiebei niemanden einfallen kann, den Armen und Bedrängten gegenüber den befehlenden Reichen gewisse Rechte einzuräumen, daß es auch keine Pflicht und keine Tugend mehr gibt, ist klar, und Unrecht ist dann nur, daß sich jemand gegen diese Ordnung der Dinge sträubt. Die Arbeiter des Sepp haben kein Recht zu fordern, was ihre Arbeit wert ist, sondern sie haben es dem Glück zuzuschreiben, daß ihr Meister so klug rechnet, daß sie bei einigen Kreuzern mehr Lohn ihm bedeutend mehr Nutzen schaffen, d. h. daß er es versteht, sie für sich mehr auszubeuten als andere Meister. Diese Ordnung der Dinge ist diejenige, die in Deutschland jetzt bekämpft wird und die jeder, in dem noch ein Funken Moral lebt, bekämpfen soll. Das ist die Größe Lassalles, daß er die Fahne zu diesem Streit erhoben hat, verstanden Herr Schulze - Delitzschle!
Ich will Dir an einem Beispiel zeigen, wo diese WälderNaturalisten, wenn sie so bleiben und sich so fortentwickeln sollten, ihre Berührungspunkte haben und behalten werden: Wenn die Mariann aus dem langsamen Hämmern des Sepp dessen Gedanken errät, so ist dies eine Heldentat, die nur bei den amerikanischen Wilden auch noch produziert werden kann, da dort vorkommt, daß einer aus der Lage und dem Aussehen eines Reisstengels entscheiden kann, wann sein Feind an der Stelle war und welche Richtung er eingeschlagen hat. Obwohl daher diese Wälder gerade nicht in die dortigen Urwälder passen würden, so hätten sie doch dort ihre verwahrlosten Kultur- resp. Nichtkultur-Vettern zu suchen und sie würden zugleich finden, daß dort Dorngebüsch und Eichenstämme noch besser gedeihen als im Bregenzerwald. Der Sepp zahlt die Strafgelder ohne Anstand, um nicht zu Gericht zu müssen; wie miserabel erscheint hiedurch dieser Wilde gegenüber einem Kulturmenschen ähnlichen Schlags, der die Strafe nicht zahlt und so das Gericht zwingt, zu ihm zu kommen und ihm sein rechtliches und vermeintlich nicht verfallenes Gut zu nehmen, d. h. ein Unrecht zu begehen. Solche Leute gibt es glücklicher Weise z. B. hier, und in Tirol ist der Fall vorgekommen, daß man bei einem wackern reichen Bürger durch zwanzig und mehr Jahre jährlich die Grundsteuer im Exekutionswege eintreiben mußte, weil nach seiner Meinung die Regierung kein Recht auf die Steuer hatte. Die Ungarn haben auf diese und ähnliche Weise ihr nationales Recht wieder erobert. Du wirst fühlen, worin der ungeheure Unterschied besteht. Bei dem Wilden ist jede Regierung, auch die schlechteste, am Platz, beim Kulturmenschen nur eine gerechte und jede andere unmöglich, und während jener immer tiefer in seinen Schlamm sinkt und von der von ihm selbst korrumpierten Regierung noch mitgeschoben wird, erhebt sich dieser in beständiger Wirkung und Gegenwirkung kurz zu einem immer bessern Dasein. Doch das sind Sachen, die Dir nicht fernab liegen können. Du wirst wohl schon lange herausgefühlt haben, daß seit ehedem kein hinreichend lebendiger Kontakt des Bregenzerwaldes mit den übrigen Kulturen besteht und daß sich deshalb daselbst ein verwerflicher Naturalismus oder, wenn Du willst, Materialismus breit gemacht hat, den Du vortrefflich schilderst. Es wäre schade, wenn noch einer nach Dir kommen müßte, um Dein Werk zu ergänzen und einzurahmen, wenn man sagen müßte, Du habest Dich nicht über Deine Umgebung erhoben. - Ich will das Bessere hoffen und abwarten. Indessen verspreche ich zu klatschen, wenn Du im zweiten Teil dem Staat und der Kirche wuchtige Schläge versetzest, weil sie die braven Wälder so vernachlässigten und verwildern ließen. Ich will Dir Beifall zollen, wenn Du der Februarverfassung soviel wohltätige Wirkung zuschreiben willst, daß einige dieser Leute durch sie, d. h. durch den mit ihr gegebenen Kontakt mit höhern Kulturmächten, auf bessere Wege kommen, wenn Du, nur kühn, durchsichtig machst, was erst werden würde, wenn sie eine gehörige Regierung hätten, wenn Du die, die sich nicht bessern oder durch die eingetretene Gärung (Tatsachenmaterial) noch schlechter werden, dem Gerichte übergibst etc. Doch, ach, ich kann nicht hoffen, ich muß schon wieder fürchten! Diese Wendung wird nach der Anlage das Werk nicht nehmen können, denn die Leute müßten Seelen haben, Tugend und Laster kennen. Ach, daß dieser Klausmelker wohl lügen, aber nicht sündigen kann! Ein junger, feuriger Mensch, der schon viel gelesen, Geschäfte gemacht und sich emanzipiert hat, kommt in Fabriken, zu liederlichen Gesellen, hat Geld und - er fängt an zu trinken (nicht einmal saufen), Schulden zu machen und - wird ein braver Bauernknecht. Wenn Du nicht fühlst, welche Ungeheuerlichkeit hier vorliegt, so würde eine Analyse des monströsen Briefes nichts nützen, und ich erspare die Arbeit, die psychischen Unmöglichkeiten in demselben zu zeigen. - Das seelische Sehnen des Fremdlers nach der Heimat, ach, wie seelenlos wird es eingangs des Alpsonntags geschildert. Du frisch gewaschenes Hemd für einen Menschen, der alles in Hülle und Fülle hat und in einer Kutsche gefahren kommt, ich gib Dir 100 Fl., wenn Du die an dieser Stelle so widerliche Komik mir sehen kst!-
Das sind Beispiele. Sie zeigen unter anderm aber auch, daß Du Dich nicht aus dem Bregenzerwald wegverirren sollst, denn da gibt's überall Tugend und Laster und dergl., die Dir noch unbekannt geblieben zu sein scheinen und im Bregenzerwald derzeit vielleicht wirklich unbekannt sind. Tugend und Laster sind nämlich Produkte der hohem Kultur und nur dort, wo das Innerste des Menschen, die Seele, zu mehrerem Ausdruck kommt. Kein Wunder, wenn Du diese im Bregenzerwald, d. h. in den verknöcherten Wäldern nicht entdeckst. Du schilderst diese Wälder wohl mit Recht als seelenlos, aber gefehlt ist es, wenn Du ihnen die Seele absprichst. - Das wäre wohl die schönste Aufgabe Deiner Kunst, zu zeigen, was der seelenlose Mensch - Naturalist - ist, wohin dessen Verknöcherung führt und welch hartes Gericht derselben wartet, wenn er das Höchste, was er hat, die Seele, nicht zum Ausdruck bringt, wenn er sich nicht zur Tugend oder zum Laster erschwingt, wenn er weder warm noch kalt wird. -
Was er ist, hast Du gezeigt, wie verknöchert er wird, desgleichen, wohlan, so zeige auch das letztere, und wenn Du die hiezu notwendige Seele unmöglich entdecken kannst, so mach sie, - ein Dichter müßte auch Seelen machen können, wenn es keine gäbe! -
Aber ich will schließen, ich bekomme vielleicht so schon Schläge statt Kirche und Staat. Deine Seele kann Dir schon in die Glieder gefahren sein und Dir eine Tat ablocken, wie die der Buben am Alpsonntag. Das wäre eine verfluchte Geschichte, das wäre was, mehr als ein frisch gewaschenes Hemd, da die Existenz der Seele dann erwiesen wäre und Dir deren Fiktion erspart würde, aber das Ziel wäre verfehlt. Doch, was sage ich, der beste Feldherr ist nicht auf einmal ein Stratege geworden, ich steh, hau zu, ich bin's zufrieden, wenn Du die Stirne so gut triffst, als die wackern Alpknechte. Es ist der Tat wegen. -
Mehr wirst Du billiger Weise nicht verlangen und zugeben, daß man auch zu Taten niemanden zwingen soll. Drum genug, und wir bleiben hoffentlich, einschließlich der Schläge, in der Freundschaft die Alten. Dein- Freund
K. Moosbrugger