KASPAR MOOSBRUGGER AN FRANZ MICHAEL FELDER
Lieber Schwager!
Da auch der Himmel seine Kapricen hat und es ihm heute gefällt, seine lieben Menschen- und andere Kinder, ob gut oder böse, mit winterlichen Regen- und Schneeschauern zu traktieren, so mache auch ich mir mein Kapricechen und bleibe, statt ihm wie sonst meine Huldigung von Angesicht zu Angesicht darzubringen, innerhalb meiner vier Wände, um meinem lieben Schwager einige der Bilder, die sich mir in dem in neuerer Zeit wieder historisch merkwürdig gewordenen Landl Tirol präsentierten, aufzurollen. - Meine Herreise, Ankunft und daiger Aufenthalt haben so wenig Poetisches an sich, als das Leben eines Bregenzerwälders überhaupt; was hingegen die Prosa nur Rührendes und Erbauliches leisten kann, das leistet sie getreu und gewissenhaft. Als ich den Staub von meiner Fußreise durch das langweilige, unfruchtbare, Industrie- und erwerbslose und eher im Rückschritt als im Fortschritt begriffene obere Oberinntal abgeschüttelt hatte und mich im Posthause zu Imst an den Honoratiorentisch zu setzen anschickte, wurde gerade von einer lachenden Gesellschaft jener Tiroler Zeitungsbericht verlesen, wonach in jenen Tagen ein sächsischer Student - gerade wie vor mehreren Jahren sein König August - unter Imst lebensgefährlich verunglückt sei. Den Bericht wirst [Du] aus einer Tiroler Zeitung wissen. Hier bekam ich nun gleich einen Vorgeschmack, wie die jetzigen Zeitungsschreiber Tirols die Wahrheit respektieren. Die lachende Gesellschaft waren die angeblich sächsischen Studenten, diese waren aber zufällig jute Preußen. Der für lebensgefährlich verletzt und einen Spitäler ausgegebene Student aber war der ärgste Lacher, hat sich stets auf der Post verpflegen und von zwei Ärzten behandeln lassen und war so unbedeutend beschädigt, daß er an dem Tags mit mir nach Innsbruck reisen zu wollen erklärte. Auch über den Anlaß des unglücklichen Sturzes war unwahr berichtet. - Innsbruck hat so ziemlich das Aussehen von anno 1855. Mit dem gepriesenen Fortschritt und der Verschönerung ist es nicht weit her. Es sind wohl einige sogenannte Prachthäuser mehr da, aber diese sind in ausländischen undeutschen Stilen erbaut und dann teilen sie mit den vielbekrittelten Juppen der Wälderinnen gerade die schlechteste Eigenschaft, nämlich die, daß sie ungestümes Wetter und unzarte Behandlung gleich aus Putz und Ansehen bringt. Eine neue Eisenbahn ist auch da mit einer großartigen, massiven Brücke über den Inn und einem schönen Viadukt. Sie bringt und vermittelt schnell alles Neue der Welt und vermehrt so den Lebensgenuß, man verzeiht ihr daher ihre grellen ohrbeleidigenden Pfiffe. - Die löbliche Inwohnerschaft ist von dem Zeitgeiste aus der frühern Ruhe aufgerüttelt worden. Es haben sich, wie überall, Parteien gebildet, die hiedurch vermehrte Tätigkeit hat aber bis nun wenig Erfreuliches zu Tage gefördert. Die Altkonservativen entpuppen sich als Föderalisten und die Ultramontanen stehen mit ihnen im Bunde. Das Bewußtsein einiger relativen Vorzüge des Tirolers und seiner frühern geschichtlichen Taten hat in der jetzigen Generation den Stammes- und Heimatstolz erzeugt, der allein den Erklärungsgrund so mancher anachronistischer Prätension bildet. Wir Vorarlberger erscheinen dem echten Tiroler nichts weniger als ebenbürtig. Diese Alten und die hohe und niedere Klerisei möchten eine rein tirolische Gesetzgebung, ähnlich wie die Ungarn eine eigene wollen, darum kongruieren sie auch in so manchen Bestrebungen. Daneben hat sich in den größeren und mittleren Städten schon seit Jahren eine sogenannte liberale Partei gebildet, welche dermalen unter dem Schütze des Ministers Schmerling ihr Haupt nicht wenig hoch erhebt. Ob Schmerling aber immer mit seinen Schützlingen zufrieden sein wird, ist eine andere Frage. Diese Leute haben zu wenig Vertrauen auf die Lebensfähigkeit des österreichischen Staatsgedankens und werden zu leicht von einer Strömung der Zeit, wie sie dermalen vom Nationalverein ausgeht, weggespült.
Ist ja schon unser Landesblättle (Feldkircher Zeitung) diesem traurigen Lose verfallen. Diese Partei wird am 1. kommenden Jahres ihr neues Blatt ,lnnsbrucker Zeitung' herausgeben. Mein ehemaliger Professor Daum wird sie redigieren und der alte Widemann mitarbeiten. Die Art, wie die Fonds zu dieser Zeitung zusammenkamen, gäbe ein interessantes Bild moderner Spießbürgerlichkeit, womit ich Dich verschonen will. Zwischen beiden Parteien steht eine kleine, vermittelnde, aus meist wissenschaftlich gebildeten Männern bestehende, gut österreichisch-tirolische Partei. Diese hat kein eigenes Organ, wirkt aber durch selbständige Schriftwerke und in Zeitschriften. Hieher gehörig ist das eben im Buchhandel erschienene Werk, das ich Dir auch sehr empfehlen möchte: ,Das deutsche Kaisertum in seinen universalen und nationalen Beziehungen', Innsbruck, Verlag der Wagnerischen Buchhandlung, 1861.
Wenn ich nun diesen Skizzen noch beifüge, daß ich hier von den alten Bekannten gut aufgenommen worden, daß mich diese gleich über die dermaligen Verhältnisse aufklärten und jeder mich als verwahrlostes Dorfkind auf die Höhe der Zeit, das heißt auf seine Ansichten bringen wollte, daß ich weiter ein angenehmes Quartier mit Kost und Verpflegung habe und täglich ein paar Dutzend Paragraphen zum Rigorosum im kommenden Monat verkaue, im übrigen gesund und wohl bin und alle Vorteile des Stadt- und Kaffeehaus-Lebens wieder schlürfe, - so wirst Du wohl für jetzt mit mir zufrieden sein und mich gern allein in die Neuigkeitskonventikel gehen lassen, um das düstere Gewölk in Ost und Süd, unter dem heute der Wiener Reichsrat seine Sitzungen wieder beginnt, zu studieren. - Ich hoffe, Du werdest recht bald Dein Wort bezüglich des Briefwechsels einlösen. Falls mir jemand nachfragt, kannst Du diesen Brief zeigen, wenn Du willst, besonders dem Doktor und Kurat. Daß Du ihn mit Deinem Wible teilen wirst, setze ich voraus. Jedenfalls grüße mir nebst Deiner Mutter und den Unsrigen die Herren in Au und Schoppernau nebst den betreffenden Wirtsleuten und Aristokraten.
Adresse: K. M., k. k. Gerichtsadjunkt in Innsbruck. Dein Freund
Kaspar Moosbrugger