VON FRIEDRICH RIEDLIN AUS FRIEDRICHSHAFEN
Geehrtester Freund!
Verzeihen Sie, daß ich Ihnen heute mit dieser Anrede nenne. Denn meinem tiefen Gefühle, den rechten Ausdruck zu geben, konnte ich nicht anders, als Sie mit „Freund" anzureden, und das sind Sie auch im wahren Sinne des Wortes.
Es war am 18 d. Mts. als ich, in trüben Gedanken über die Zukunft traurig und niedergeschlagen an meiner Werkbank stund, als der Briefträger mir einen Brief hinlegte. Der Adresse sowie dem Postzeichen nach, erkannte ich gleich von Wem er komme. Ich öffnete ihn und was mich ungemein freute und aber auch überraschte, war, Ihre mir so theure Photographie. Ach wie leicht wurde es mir wieder um das Herz, in dem Gedanken einen Freund, ja einen wahren Freund erworben zu haben, der trotz seiner äußerlichen Stellung, trotz seinem Umgange mit wissenschaftlich gebildeten Männern, sich nicht genirt einen Proletarier unter die Zahl seiner Corespondenten aufzunehmen. In der That einen Liebesbrief von meiner ersten reinen Liebe, von meiner lieben Sophie, wäre mir nicht erwünschter gekommen, als der Ihrige. Sie können es gar nicht begreifen, wie wohlthuend und erquigend es für einen Menschen sein muß, der sich von allen verlassen und vom Schicksale verstoßen fühlt, wenn dann ein einziger wahrer und gebildeter Freund sich seiner annimmt, und so gleichsam wie ein heller Stern am dichtbewölkten Himmel ihn anlächelt. Ja tausend Dank für Ihre werthe Freundschaft. Gebe Gott! daß sie nie getrübt werde. - . Nun will ich an die Beantwortung Ihres lieben Briefes.
Die Zeitschrift: „Der Sozial-Demokrat" habe ich zwar persönlich noch nie gelesen, wohl aber schon öfter davon gehört. Was nun meine Schrift anbelangt, so werde ich dieselbe noch einmal genau revidiren, umschreiben und erst dann Ihnen zuschicken. Ihr Urtheil darüber wird dann über dessen Schicksal zu entscheiden haben, somit ist also dieser Gegenstand vorderhand abgemacht.
Eine Reise nach Leipzig? Ei, wie wird Ihnen das freuen. Ist das Reisen ohnehin ein Mittel um Bildung, Kenntnisse, und andere Anschauungen zu erwerben, umso mehr für Ihnen, indem Sie dadurch einen großen Theil von Bayern und Sachsen, mit ihren schönen Gegenden und Städten besehen, und was noch ein weit größern Werth hat, mit Männern der höchsten Geistesbildung in Berührung kommen werden, denn Leipzig ist der Stappelplatz und Centralpunkt deutscher Bildung und menschlichen Wissens u. Denkens. Diese Reise wird Ihnen ein größerer Nutzen sein, als wenn Sie in Ihrer Abgeschiedenheit ganze Stöße von Zeitschriften u. Büchern lesen. Ich will zehn auf Eins wetten, daß einige Wochen nach Ihrem Aufenthalt, Ihr Bild in der Gartenlaube erscheinen wird. Es könnte sein, daß ich um meine Schrift vollständig auszuführen, in die Lage komme, mich schriftlich bei SchultzeDelitzsch um eine Frage anzugehen, so möchte ich Ihnen hiemit höflichst ersuchen, ob Sie mir viejleicht angeben könnten, wo sich Schultze aufhält?
Ihre Frage, woher ich wisse, daß Sie wieder zu Hause seyen, will ich Ihnen sehr gerne beantworten. - . Als ich so lange nichts mehr von Ihnen hörte, und mein Geist einen so theuern Freund auf die Länge nicht vermissen konnte, so schrieb ich am 30 Juni an den Redakteur d. Gartenlaube, Herrn Ernst Keil um ihn über Ihre werthe Person um Auskunft zu fragen. Herr Keil antwortete] mir sogleich zurück, daß Sie wieder zu Hause seyen. Daß Sie mit einem Freunde über mich schon gesprochen haben, freut mich sehr, und ich versichere Ihnen, daß ich gegen diejenigen der höhern Klasse, die eine echte Bildung und einen edlen Geist haben, gewiß keine Vorurtheile hege, insbesondere wenn Sie mir solche empfehlen. Bei solchen wissenschaftlich gebildeten Männern könnte ich mich freilich für mein Fach besser ausbilden, allein sie sind eben nicht so leicht zu erobern. Deßhalb ist mir auch Ihre Corespondenz so schätzenswerth, einestheils um mich in geistiger Beziehung zu bilden, anderntheils um meinem mittheilsamen Geiste einen Kanal zu verschaffen. Ich versichere Ihnen, würde man mir die größten Schätze der Erde anbieten, und dürfte aber mit gelehrten und gebildeten Geistern keinen Umgang pflegen, ich würde dieses Anerbieten entrüstet zurückweisen . - . Wie gerne würde ich mir die Freiheit nehmen Ihnen meine Photographie zu schenken, wenn ich könnte; allein da meine Geldmittel immer so schlecht stunden, konnte ich an eine solche Ausführung nicht denken. Vielleicht später.
Aber wissen Sie was mich unbeschreiblich freuen würde?? Ihnen persönlich sehen und sprechen zu können! Sie kommen doch hie und da nach Lindau, wie wäre es, wenn ich einmal an einem gewissen Tage, von hier nach Lindau per Dampfschiff fahren würde. Die Fahrt ist nicht lange und die Unkosten wären auch nicht groß. Welchen Vortheil gewährt eine persönliche Zusammenkunft, wo ein ungenirter und ungezwungener Gedankenaustausch stattfinden kann. Wie viel habe ich Sie zu fragen und wie viel könnte ich Ihnen über meine Schicksale erzählen. - . Sie werden fragen, wie ich nach Friedrichshafen komme? - . Da ich in Folge des schlechten Verdienstes, und der Verleumdungen die ein ehemaliger Werkführer über mich ausstreute, mich in Memmingen nicht mehr länger zu halten glaubte, so schrieb ich hierher an den Vorstand der königl. Maschinenwerkstätte, welcher mir sogleich zurück antwortete, daß ich bis 22 Juli eintreten könne; und so fuhr ich am Samstag Nachmittag über Ulm hierher, bezog eine hübsche Schlafstelle, wo ich in den Freistunden der Muse obliegen kann, und werde morgen früh 6 Uhr anfangen zu arbeiten. Ist der Lohn dann meinen Erwartungen entsprechend, so werde ich meine Frau und mein 23/4Jähriges Büble nachkommen lassen. Leider finde ich hier alles unverschämt theuer, und mit der Einnahme im größten Wiederspruch. Es scheint mir, daß ich hier meine Kenntnisse wohl um etwas bereichern, aber auch manche bittere Erfahrung werde machen müssen, doch sei die Sache Gott befohlen.
Inzwischen leben Sie wohl, und vergessen Sie nicht Ihren aufrichtigen Freund u. Verehrer
Fried. Riedlin
Meine Adresse bitte ich zu richten: Friedr. Riedlin Schlosser wohnhaft bei
[...] Scheu Schuhmachermstr. Friedrichshafen